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Unser Co-Vorsitzender Dr. Thorsten Krings hat im Mai diesen Jahres bereits zum zweiten Mal Studierende in der Ukraine besucht, um dort trotz des Krieges Vorlesungen zu halten.

Nachdem ich letztes Jahr erstmalig in der Ukraine Vorlesungen gehalten hatte, war ich dieses Jahr erneut in Dnipro. Warum? Zuerst ist da vielleicht der egoistische Grund, sich in so einer Situation nicht vollkommen hilflos zu fühlen. Dann ist da aber auch noch der Wunsch, den Studierenden in Zeiten des Krieges wenigstens ein kleines Stück Normalität zu bieten und dazu gehören Präsenzveranstaltungen und der internationale Austausch. Meine Hochschule unterstützt mein Engagement „aus strategischen Gründen“ nicht. So ist diese Reise Teil meines Urlaubs und findet auf eigene Kosten statt. Das finde ich zwar traurig, aber es hält mich nicht ab.

Dieses Mal reiste ich ab Warschau mit der Bahn. Die Reise dauerte 26 Stunden. Beim Grenzübertritt war mir etwas mulmig zu Mute, denn es gab Alarm und es ist bekannt, dass die Russen gerade gezielt die Verkehrsinfrastruktur bombardieren. Doch recht schnell gewöhnt man sich daran und ich konnte im Zug gut schlafen.

Am ersten Tag halte ich eine Vorlesung über die politischen Parteien in Deutschland. Die Studierenden sind sehr überrascht darüber, dass es in Deutschland bekennende Sozialisten gibt und dass sowohl die extreme Linke wie auch die extreme Rechte sehr russlandfreundlich sind. In der Summe finden Sie unser Parteiensystem aber sehr gut, weil jede Partei eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe oder eine Philosophie abdeckt und nicht wie in der Ukraine eher Unterstützungsvereine für einzelne Politiker sind. Eine solche Parteienlandschaft wünschen sie sich für die Ukraine nach dem Krieg.  

Den Angriff auf Dnipro am nächsten Tag verschlief ich dann auch und fand am nächsten Morgen etwa zehn Anrufe von ukrainischen Kollegen, die wissen wollten, ob es mir gut geht.

Immer wieder werden die Vorlesungen durch Sirenen unterbrochen. Ich installiere mir eine Warn App auf dem Handy und stelle schnell fest, dass die Intensität der Angriffe seit letztem Jahr deutlich zugenommen hat. Die meisten Ukrainer ignorieren sie deshalb mittlerweile. An der Hochschule gilt aber, dass nur so viele Studierende vor Ort sein dürfen, wie es Plätze im Luftschutzbunker gibt. Das wiederum bedeutet, dass es viele gibt, die so gut wie keine Präsenzvorlesungen hatten. Einige sagen dann auch, dass sie sich nach Jahren des online Unterrichts von den vielen Reizen jetzt in einer normalen Vorlesung überfordert fühlen. Also mache ich deutlich mehr Pausen als sonst.

Am zweiten Tag beschäftigen wir uns mit Strategie. Eigentlich hatte ich die Frage nach einer Vision für eine Ukraine nur als Einstiegsübung gedacht. Doch daraus wird eine sehr intensive Diskussion. Die jungen Menschen haben sehr klare Vorstellungen davon, wie es sein soll und wie es nie mehr sein darf. Sie reden offen über die Korruption, die die Gesellschaft wie ein Krebsgeschwür zerfressen hat. Sie wollen die enorme soziale Ungleichheit beseitigen, die es im Land. Vor allem aber wollen sie Wahlen, in denen es um echte Alternativen für die Zukunft des Landes geht. Es macht mir Mut für die Zukunft, dass die jungen Leute klar wissen, wohin die Reise gehen soll und dass sie sich engagieren wollen. Wahrscheinlich werde ich bei meinem nächsten Besuch mehr Themen zu Politik und Zivilgesellschaft behandeln.

Das fast schon Surreale an einem Krieg ist die Parallelität vom Normalen und dem eigentlich Unvorstellbaren. Man geht zur Arbeit, trifft Freunde, sitzt im Cafe, geht einkaufen und erlebt dann aber Alarme, Angriffe, sieht Kriegsversehrte oder aber hört von Menschen, die im Krieg ermordet wurden. Für die Ukrainer bedeutet diese Situation natürlich Stress und eine Ende ist nicht in Sicht. Mein Eindruck war, dass viele Menschen dort trotz ihres Kampfeswillens physisch und psychisch ermüdet sind.

Das für mich erschütterndste Erlebnis war der Abend meiner Rückreise. Es gab mehrfach Alarm und da die Russen den Hauptbahnhof schon mehrfach bombardiert haben, wurden wir von der Polizei angewiesen in den Luftschutzkeller zu gehen. Da saß ich dann mit einer Klasse von Grundschulkindern. Kein Kind sollte so etwas je erleben müssen.

Die Menschen in der Ukraine und auch diejenigen, die geflüchtet sind, brauchen heute mehr denn je unsere Hilfe und bedingungslose Solidarität. Ich werde im Herbst wieder nach Dnipro reisen.